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und Materialien:

  • 25. April 1974, 0.20 Uhr: Grândola, vila morena
    Artikel aus der Jungen Welt zur Nelkenrevolution
    Junge Welt vom 24. April 2004
    Gerd Schumann
    José Afonso und Franz Josef Degenhardt sangen von der portugiesischen Revolution: Zwei historische Vinylscheiben erzählen die Geschichte einer untergegangenen Epoche
    Vor mir liegen zwei Schallplatten, schwarzes Vinyl aus der Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, also jener leningestützten Vorstellung, nach der die drei »Hauptströme« des weltrevolutionären Prozesses – sozialistische Länder, Arbeiterbewegung des Kapitalismus, nationale Befreiungsbewegungen des Trikont – dem historisch überholten Imperialismus den Garaus bereiten würden.
    Grândola, vila morena
    Stadt der Sonne, Stadt der Brüder,
    Grândola, vila morena
    Grândola, du Stadt der Lieder
    Nun kreist die erste Scheibe in 33 Umdrehungen pro Minute auf dem Plattenteller: »Cantigas do Maio« (Gesänge aus dem Mai) von José »Zeca« Afonso. Das leise Knirschen und Knistern hat nicht, wie zu vermuten, mit Vinylabnutzung zu tun. Im Gegenteil. Mit ihm beginnt etwas Taufrisches, ein in Portugal lange verbotenes Lied, das Lied von der Stadt Grândola. Das leise Knirschen und Knistern wird zum schleppenden Rhythmus, träge und zäh wie lustlos Marschierende, ermatteter Tritt von Tagelöhnern, immer stärker und lauter, bis der Sänger mit trauriger Stimme »Grândola, vila Morena« darauf singt, und »Terra da fraternidade«, eine Terz höher, »O povo eçquem mais ordena. Dentro de ti ó cidade: Grândola, dunkle Stadt, Ort der Brüderlichkeit, das Volk hat wieder zu bestimmen in dir, du Stadt.« José Afonso stimmt es solo an, ruhig, ja gelassen, einfacher Melodiebogen, doch von einer Melancholie durchwirkt, so tief, unvorstellbar fast die Sehnsucht, die in ihr schwingt wie beim Fado (Schicksal), den Afonso schon als 17jähriger aufführte – zu Hause in Coimbra, wo er Geschichte und Philosophie studierte, und später in der portugiesischen Kolonie Moçambique, portugiesischer Schicksalsgesang, der Welt hoffnungsloses Leid beklagend.
    Grândola, du Stadt der Lieder
    Auf den Plätzen, in den Straßen
    Stehen Freunde, stehen Brüder
    Grândola gehört den Massen.
    Dann wiederholt eine andere Stimme die letzte Zeile, »Grândola gehört den Massen«, ein heller Fastsopran, dessen Satz von vielen Sängern unterstützt wird, herb, düster zunächst, dann entschlossen, zumindest steigert sich das Volumen, Männerchor, Saisonarbeiter auf dem Land des Latifundienbesitzers, Korkeichen schälend, Getreide erntend, Oliven pflückend, dabei singend in alter Tradition, Arbeitslied, der Vorgabe des Sängers folgend, überkommener Wechselgesang zwar, doch auch neu, im Stil des portugiesischen »Canto livre« (Freier Gesang), in dem die mehrstimmig vorgetragene Weiterentwicklung der Dramaturgie Bewußtseinsentwicklung anzeigt, ein mächtiger A-cappella-Gesang, doch immer weiter unterlegt von dem tristen Kolonnentritt. Der entfernt sich nach sechs Vierzeilern langsam, verliert sich in der Ferne, in der Unendlichkeit trockener, abgeernteter Flächen. Ende des drei-Minuten-Lieds, ein einfaches, kleines Stück von ungeheurer, großartiger Wirkung: Aufruf zur Veränderung der politischen Weltkarte.
    Grândola, vila morena
    Viele Hände, die sich fassen
    Solidarität und Freiheit
    Geht der Ruf durch deine Straßen.
    0.20 Uhr zeigt die Uhr im Studio der katholischen Radiostation »Renascenca« (Wiedergeburt), keine halbe Stunde nach Mitternacht des 25. April 1974 ertönt das verabredete Zeichen. Schon vorher hatte sich die Nadel in die Rille gegraben, war das historische Magnetband produziert worden, die Strophen jeweils unterbrochen vom rezitierten Text – das verabredete akustische Signal zum Aufstand. Zwei regimeoppositionelle Journalisten, Carlos Albino und Manuel Tomaz, haben alles bis ins Detail vorbereitet. Albinos Kontakte zur klandestinen Bewegung der Streitkräfte Portugals (MFA) aus der Zeit seines eigenen, verhaßten Militärdienstes machen ihn und Tomaz, ein Hörfunkkollege, der aus Moçambique ins Herz der Kolonialmacht gekommen ist, zu Schlüsselfiguren der Revolution. Die MFA-Truppen werden zunächst Lissabon nehmen, um dann in den folgenden Stunden und Tagen das faschistische Regime des Salazar-Nachfolgers Marcelo Caetano zum Teufel zu jagen, eine Terrorherrschaft stürzen, die die portugiesische Gesellschaft seit bald einem halben Jahrhundert lähmt, wie in Blei gegossen das Land und die Kolonien, bewacht von gefürchteten Geheimdienstfolterern der PIDE, Angst und Einschüchterung verbreitend, den gebeugten Gang und Vorsicht als Lebenseinstellung erzwingend. Grândola erhebt sich, das Lied wirkt.
    Geht der Ruf durch deine Straßen
    Gleich und gleich sind unsre Schritte
    Grândola, vila morena
    Gleich und gleich durch deine Mitte.
    José Afonso trug Grândola erstmals am 29. März 1973 vor. 5 000 Menschen sangen mit beim ersten portugiesischen Liederfestival. Seitdem ist es verboten, wie die neuen Volkslieder des Mikis Theodorakis in Griechenland. Wie die neuen Volkslieder des Katalanen Lluis Llach in Spanien. Sie wirken in den letzten faschistischen Diktaturen Europas als Kraftspender auf dem langen Marsch des Widerstands, bedeuten eine »kurze Rast in einem quellenkühlen Tal« (Franz Josef Degenhardt 1968: »Für Mikis Theodorakis«). Und die griechischen Obristen, die spanischen Herren Generäle mit ihrem Caudillo, die portugiesischen Mumien wanken. »Wie ihr großer weißer Vater, dieser Völkermörder Johnson, löschen sie das Licht nicht mehr bei Nacht« (Degenhardt). Grândola, also Portugal, los, mach den Anfang!
    Deine Kraft und euer Wille
    Sind so alt wie unsre Träume
    Grândola, vila morena
    Alt wie deine Schattenbäume.
    Genau 30 Jahre liegt »Grândola« nun zurück, fast ein Drittel Jahrhundert verklungen das Lied über die Stadt im Alentejo, gelegen an der Strecke von Lissabon in die Algarve – ein Name nur, und doch Metapher für das Land, für dessen Herrschaft in Angola, Moçambique, Guinea-Bissao, im Golf von Guinea, in Macau, in Ost-Timor. Die zerlumpten Massen der Unterdrückten dort, die glitzernden Oasen für Reiche am Atlantischen ebenso wie am Indischen Ozean, wo im »Polana«, dem Luxushotel von Lourenco Marques, schwarze Frauen auf die Zimmer bestellt werden. Lourenco Marques wird bald seinen Kolonialistennamen aus dem 16. Jahrhundert ablegen und 1975 zu Maputo werden.
    Vor mir liegt nun das Foto von irgendwann zwischen dem 25. April und dem 1. Mai 1974, José Afonso und die ganze hochkarätige Liedermacherschar, vertrieben vom Faschismus, kehren zurück aus dem Exil. Die Freude der Menschengruppe läßt sich nicht in Worte fassen, zeugt sie doch von jenem äußerst seltenen Gleichklang aus persönlichem und gesellschaftlichem Empfinden, von vollendeter Vergangenheit und anbrechender Zukunft, von Trauer und Hoffnung.
    Alt wie deine Schattenbäume
    Grândola, du Stadt der Brüder
    Grândola, und deine Lieder
    Sind nun nicht mehr nur noch Träume.
    Franz Josef Degenhardt übertrug die portugiesischen Worte von »Grândola« ins Deutsche schon bald nach der »Nelkenrevolution« und sang sie auch. Singer-Songwriter wie José Afonso, damals trefflich »Liedermacher« genannt, ein Begriff, dem heute der Makel des Verstaubten angedichtet wird. Nun kreist die zweite Vinylrarität auf meinem Plattenteller. »Mit aufrechtem Gang« nannte sie »Väterchen Franz«, zu Beginn der Sechziger Pate an der neuen deutschen Liedermacherkrippe, seine doppelte Langspielrille in Beatles-weißem- Album-Cover mit schwarzen Schreibmaschinenlettern drauf, eine historische Scheibe deswegen, weil sie exakt jenen historischen Wendepunkt einfängt, an dem die Epoche zu kippen scheint und sich doch noch einmal fängt, jene kurze Zeitspanne zwischen Chile und Portugal, zwischen dem 11. September 1973 und dem 25. April 1974, zwischen putschenden Faschistengenerälen und putschenden Antifa-Massen in Uniform – »Station Chile« wurde am 31. Mai 1974 beim Victor-Jara- Gedächtniskonzert in der Essener Gruga-Halle aufgenommen, da überstrahlte der 25. April schon die chilenische Nacht, und Degenhardt rotzt trotzig trotz der schweren Niederlage für den weltweiten Sozialismus in Chile noch einmal das tragische »Venceremos« in den Saal. »Wir werden siegen« wird nicht Wirklichkeit werden. Der Sänger und Dichter weiß es noch nicht. Er und alle historischen Optimisten werden 1980 noch mit Nicaragua und Simbabwe feiern können. Die nationalen Befreiungsbewegungen scheinen erneut die Epochedefinition zu bestätigen. Ein letztes Mal.
    Die vom Westen installierten »bandidos armados« genannten konterrevolutionären Truppen in Moçambique und Angola destabilisieren die befreiten Exkolonien. Sie werden die sozialistischen Blütenträume der Freiheitskräfte MPLA und Frelimo zerstören. Degenhardt weiß noch nichts von Afghanistan und den bevorstehenden Niederlagen. Vielleicht ahnt er die bitteren Deformationen des Realsozialismus, singt dazu nicht, kein öffentliches Wort niemals.
    Noch immer ist das Vergangene nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen. Degenhardt interpretiert Erich Weinerts Emigranten-Choral und erinnert an den Kampf dagegen im »Zündschnüre-Song«, dem Lied zu seinem gleichnamigen, trocken-humorigen, also phantastisch milieustimmigen Ruhrgebietsroman über den antifaschistischen Jugendwiderstand 1944 – warum wird die »Zündschnüre«-Fernsehverfilmung eigentlich nicht mehr gezeigt heute? Dieselbe Frage betrifft des Sängers Lieder, jene Wegbegleiter in den Kämpfen und auf den Festen der Vergangenheit und auch der Gegenwart, auf alle Fälle der Zukunft, gemieden von den Rundfunkanstalten und Fernsehsendern des deutschen Westens. Damals aus gutem Grund – hundert Pro – siehe die Beispiele, siehe Portugal, Spanien, Griechenland, siehe Afonso, Llach, Theodorakis. Die historisch-dialektische Epochebestimmung scheint sich Mitte der siebziger Jahre ihren Weg zu bahnen – trotz des Berufsverbots, jener Bruchstelle einer progressiven BRD- Entwicklung, von der Degenhardt in seiner »Belehrung nach Punkten« singt. Die BRD bleibt dem preußischen Beamtenrecht ebenso verpflichtet wie der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«, die sich mit den Jahren auch in Portugal, Griechenland und Spanien, den letzten drei Gewaltherrschaften auf europäischem Boden, etablieren wird: Nein, der nationalen Befreiung folgt die soziale nicht zwangsläufig. Die internationale Sozialdemokratie leistet im Zusammenspiel mit den Bourgeoisien ganze Arbeit, unterstützt auch vom Mangel an Sozialismus im Sozialismus.
    Franz Josef Degenhardt, der Geschichtschronist, berichtet derweil von der Menschlichkeit und wie es damals war mit dem neuen Leben in »Wolgograd«, Stadt der Befreiung Deutschlands vom Faschismus, die früher »Stalingrad« hieß. Und singt vom portugiesischen April. Beide werden nie zusammenkommen, sagt uns die Geschichte. Bis jetzt. »Grândola«, das das letzte Lied »Mit aufrechtem Gang«, klingt knisternd und knirschend aus. Nein, nicht von zerkratztem Vinyl. Es sind die wieder geknechteten Landarbeiter des Alentejo.
    * Historisches Vinyl 1 inklusive »Grândola«: »Cantigas do Maio« (1929–1987), Orfeu, STAT 009
    * Historisches Vinyl 2 inklusive »Grândola«: »Mit aufrechtem Gang« von Franz Josef Degenhardt, Polydor, 2459240

    Artikel aus der Jungen Welt zur Nelkenrevolution

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  • “Ich glaube nicht an den dritten Weg”
    Interview mit Vasco Goncalves
    aus der Jungen Welt zur Nelkenrevolution
    junge welt vom 24. April 2004
    Interview: Frank Bochow
    Gespräch mit Vasco Gonçalves über das Bündnis von Streitkräften und Bevölkerung in der portugiesischen Revolution, über die Rolle der SPD und der USA bei deren Zurückdrängung und Perspektiven für einen gesellschaftlichen Wandel
    * General Vasco Gonçalves (geb. 1922) war einer der Autoren des Programms der »Bewegung der Streitkräfte« (MFA), die am 25. April 1974 nach 48 Jahren die faschistische Militärdiktatur von António de Oliveira Salazar (1889– 1970) und dessen Nachfolger Marcelo Caetano (1906–1980) beseitigte. Nach der »Nelkenrevolution« war Vasco Goncalves Ministerpräsident Portugals in einer Reihe von Regierungen bis zum September 1975. Das Gespräch wurde am 28. März in Lissabon geführt.
    F: Wie erlebten Sie die Nacht vom 24. zum 25. April 1974, als im Radio mit dem Lied »Grândola, vila morena« von José Afonso das endgültige Signal zum Aufstand gegen das Caetano-Regime gegeben wurde?
    Ich war daheim, in meiner Wohnung, und blieb auch dort bis zum Abend des 25. April. So war es mit meinen Freunden vereinbart. Sie müssen wissen, daß der militärische Aufstand von den mittleren Offiziersgraden vorbereitet wurde, die sich anfangs in der »Bewegung der Hauptleute« zusammengefunden hatten, aus der dann die MFA, die »Bewegung der Streitkräfte«, hervorging. Ich war damals Oberst der Pioniertruppen und stieß erst Ende September, Anfang Oktober 1973 zu dieser Bewegung. Man kannte meine antifaschistische Haltung seit langer Zeit, und so suchte man den Kontakt mit mir. An den rein militärischen Operationen war ich nicht beteiligt. Zur Ausarbeitung des politischen Programms der MFA kam ich in der letzten Phase, insbesondere dann, als es darum ging, es mit General António de Spinola zu diskutieren, der an die Spitze einer Übergangsverwaltung, der sogenannten »Junta der Nationalen Rettung« gelangte.
    F: Die »Nelkenrevolution« siegte in wenigen Tagen und verlief weitgehend unblutig. Die Armee eines NATO-Mitgliedstaates war zur Trägerin einer fortschrittlichen Entwicklung geworden, die sich gegen die Regierung richtete. Welche Widerstände waren zu überwinden?
    In der Tat siegte der bewaffnete Aufstand in wenigen Stunden, es gab von der Militärhierarchie kaum Widerstand. Das hatte mehrere Gründe. Der entscheidende war der über 13jährige Kolonialkrieg. Die Mehrheit der Soldaten und Offiziere hatte erkannt, daß er nicht zu gewinnen war und nur beendet werden konnte durch den Sturz des faschistischen Regimes. Es hatte auch in der Vergangenheit schon mehrere Versuche gegeben, die faschistische Herrschaft zu beenden – jetzt war die Zeit endgültig gekommen.
    F: Ihr Hauptziel war der Sturz eines der letzten offen kolonialistischen und diktatorischen Regimes Europas. Beides gelang. Die ehemaligen Kolonien erreichten ihre nationale Unabhängigkeit, in Portugal wurde eine demokratische Verfassung erarbeitet. Sind damit aus historischer Sicht auch die beiden Hauptleistungen der MFA-Revolutionäre benannt?
    Vielleicht sollte ich für die Leser der jungen Welt noch einiges zur damaligen Situation sagen, 30 Jahre sind eine lange Zeit, und vieles verblaßt in der Erinnerung. Die »Bewegung der Streitkräfte« war keine revolutionäre Organisation. In ihr gab es sowohl Revolutionäre als auch Anhänger einer Gruppe, die lediglich die Caetano- Regierung stürzen wollte, ansonsten sollte sich wenig verändern. Selbst bei der Beseitigung des Kolonialregimes gab es viele Hindernisse. Zunächst einmal war geplant, in den Kolonien eine Waffenruhe zu verkünden, ein Jahr lang eine Übergangsverwaltung einzurichten, dann ein Referendum durchzuführen, in dem die Bevölkerung sich auch für die Autonomie und die Unabhängigkeit hätte aussprechen können. Das scheiterte natürlich an dem energischen Widerstand der Befreiungsbewegungen, die völlig zu Recht die sofortige Unabhängigkeit verlangten und nicht bereit waren, den bewaffneten Kampf aufzugeben. Wir, d. h. der progressive Kern der MFA, unterstützten vorbehaltlos diese Forderungen.
    Die eigentliche »Nelkenrevolution« begann nach dem 25. April. Zu unser aller Überraschung gingen Menschen auf die Straßen, forderten die sofortige Befreiung der politischen Gefangenen, die Beseitigung des Geheimdienstes, sie verbündeten sich mit den Soldaten und Offizieren in großartigen und bewegenden Aktionen. Wir selbst, d. h. die MFA, hatten zunächst dazu aufgerufen, in den Häusern zu bleiben, um bei eventuellen militärischen Auseinandersetzungen möglichst keine Opfer unter der Zivilbevölkerung zu haben. Und so kam es zu dem einzigartigen Bündnis zwischen Volk und Streitkräften, das bis Ende 1975 die entscheidende Grundlage für den Fortgang der Revolution bildete.
    F: Auf den Tag genau ein Jahr nach der »Nelkenrevolution« ergaben die Wahlen eine Mehrheit für die Sozialistische Partei, die in der BRD, in Bad Münstereifel, mit Unterstützung der SPD gegründet worden war. War das nicht eine Enttäuschung für die Linke? Und welche Rolle haben die SP und Mário Soares historisch aus Ihrer heutigen Sicht gespielt?
    Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung am 25. April 1975 waren nur ein Teil des Entwicklungsprozesses. Ihr Ergebnis widerspiegelte die Tatsache, daß ein großer Teil der Wähler die wahren Absichten der politischen Parteien nicht durchschauen konnte. Bis auf das »Christlich-Demokratische Zentrum« (CDS) sprachen sich doch alle für die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Entmachtung der Monopole und Banken, für die Rechte der Werktätigen und ihrer Interessenvertretung aus. Vergessen Sie nicht, daß diese Konstituierende Versammlung eine Verfassung erarbeitete, die am 2. April 1976 mit der Zustimmung fast aller Parteien angenommen wurde, in welcher der Sozialismus als Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung in Portugal festgeschrieben wurde. Diese Verfassung war Ausdruck der Stimmung im Volk und Widerspiegelung einer bis dahin einmaligen Massenbewegung. Die Landarbeiter besetzten die von den Großgrundbesitzern im Alentéjo verlassenen Güter, bildeten ihre »Kollektiven Produktionseinheiten« und begannen, das Land in eigener Regie zu bewirtschaften. Die Arbeiter und Angestellten in den Betrieben, Banken und Versicherungen forderten in vielfältigen Aktionen die Entmachtung der Monopolgruppen.
    In dieser stürmischen, wahrhaft revolutionären Zeit wagte es keine Partei, sich dieser Woge des Elans offen zu widersetzen. Wir, die progressiven Kräfte in der MFA, unterstützten mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln diesen Prozeß, bekräftigten dies in zwei Vereinbarungen zwischen der MFA und den Parteien. Die vier »Provisorischen Regierungen«, die ich als Ministerpräsident von Juli 1974 bis September 1975 leitete, erließen die entsprechenden Gesetze und Verordnungen. Mário Soares und der größte Teil der Führung der Sozialistischen Partei haben mit allen Mitteln versucht, diese Entwicklung zu verhindern. Faktisch führte die Sozialistische Partei die Konterrevolution an. Dem Namen nach sozialistisch hatte sie eine gewisse Popularität im Volk und war deshalb für diese Rolle am besten geeignet, konnte sie doch nicht beschuldigt werden, »rechts« zu sein. Unter Mário Soares als Regierungschef der ersten Regierung nach Annahme der Verfassung ab Juli 1976 wurden dann die ersten Maßnahmen gestellt, um die Errungenschaften der Revolution Schritt für Schritt zu beseitigen.
    F: Welchen Einfluß nahmen – neben der deutschen Sozialdemokratie – ausländische Kräfte auf die portugiesische Entwicklung?
    Der Sturz des faschistischen Regimes selbst stieß zunächst durchaus auf das Wohlwollen der USA und anderer kapitalistischer Staaten, hoffte man doch auf einen »normalen« Übergang zu einer formal bürgerlichen Demokratie im Rahmen Westeuropas. Mit dem Fortschreiten des revolutionären Prozesses änderte sich das jedoch radikal. Die USA äußerten mehrfach ihre Sorge über die Gefahr »einer kommunistischen Machtübernahme« in Portugal. Sie entsandten Frank Carlucci, eine Führungsfigur der CIA, als Botschafter nach Portugal, der sich nach meinen Kenntnissen auch nach Kräften in die inneren Prozesse einmischte. Faktisch widersetzten sich alle kapitalistischen Industriestaaten, gleich von welchen Parteien sie auch regiert wurden, der portugiesischen Revolution. Ich erinnere mich noch ganz gut an die NATO-Ratstagung in Brüssel im Mai 1975 und meine Begegnungen mit dem damaligen USA-Präsidenten Gerald Ford und dem Staatssekretär Henry Kissinger. Das ausdrückliche Ziel der Amerikaner im Gespräch mit mir war, daß ich sofort nach meiner Rückkehr nach Lissabon die Kommunisten aus der Regierung entferne, was ich natürlich ablehnte. Danach hatte ich den Eindruck, daß die amerikanische Regierung entschlossen war, auf andere Kräfte in- und außerhalb der MFA zu setzen, was sie im übrigen auch schon vor dieser Begegnung getan hatte.
    F: Portugal ist heute ein kapitalistischer Staat, dessen Regierungen, wie viele andere auch, eine neoliberale Politik betreibt. Worin sehen Sie die Hauptgründe für das Scheitern der sozialistischen Ziele der Aprilrevolution?
    Zu den Gründen für das Scheitern gehören nach meiner Meinung: die Divergenzen und Interessengegensätze zwischen den Demokraten, die sich, wenn auch mit vielen Schwierigkeiten, im Kampf gegen das Caetano-Regime und später zur Unterstützung der MFA und der Revolution zusammengefunden hatten; die Verschärfung des Klassenkampfes; eine sehr erfolgreiche ideologische und psychologische Offensive gegen die MFA, in deren Verlauf ihr revolutionärer Kern der Verbindung mit den Kommunisten beschuldigt wurde und das Gespenst einer neuen Diktatur an die Wand gemalt wurde, begründet in den weitgehenden Veränderungen der Eigentumsstrukturen; die tiefgehende Spaltung innerhalb der Linken der MFA, als Ergebnis des Einflusses der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie unter den Militärs; die Politik der Parteien, die bei den Wahlen zur »Konstituierenden Versammlung« gesiegt hatten, die, im Gegensatz zu den von ihnen proklamierten sozialistischen Zielen und ihrer Unterschrift unter die Übereinkunft mit der MFA, darauf gerichtet war, die sozialen Errungenschaften des April zu unterminieren; der Einfluß der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie auf die Mehrheit der portugiesischen Werktätigen und die Militärangehörigen; die antidemokratischen Verhältnisse in großen Gebieten des Landes; der andauernde beträchtliche Einfluß äußerst rechter und reaktionärer Kräfte bis hin zur Hierarchie der katholischen Kirche; das begrenzte politische Bewußtsein unseres Volkes; die Unterstützung, die der Konterrevolution von den internationalen sozialdemokratischen und christdemokratischen Parteien und von den imperialistischen Staaten gewährt wurde.
    F: 1986 wurde Portugal Mitglied der EU. Der Kapitalismus als gesellschaftliches System hat sich reetabliert. Welche Perspektiven sehen Sie heute für einen gesellschaftlichen Wandel in Portugal?
    Wir können heute nicht die unmittelbare Zukunft voraussehen. Wir wissen aber genau, wohin die aktuelle Politik führen kann. Deshalb ist der entschiedene Kampf gegen den Neoliberalismus und die Kriege, die das gegenwärtige Gesellschaftssystem hervorruft, nötig, ein Kampf, der letztlich die Überwindung des Kapitalismus zum Ziel hat. Ich glaube nicht an einen »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Diejenigen, die so etwas vertreten haben, sind stets bei einer Politik gegen die Interessen der arbeitenden Menschen angekommen, wie es das Beispiel der sozialdemokratischen Regierungen von Lionel Jospin in Frankreich, Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland beweist.
    Unter den gegenwärtigen außerordentlich schwierigen Bedingungen sehe ich die Aufgabe aller demokratischen und progressiven Kräfte meines Landes in der täglichen beharrlichen Arbeit zur Formierung eines politischen und sozialen Bewußtseins unseres Volkes, um seine tatsächliche Teilnahme an der Umgestaltung der Gesellschaft zu ermöglichen. In diesem Kampf spielen die Gewerkschaften, politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen, die an den unterschiedlichsten sozialen Aktivitäten beteiligt sind und für eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft eintreten, eine entscheidende Rolle.
    In einem solchen Kampf gilt es, die Kräfte zu sammeln, die für eine Veränderung nötig sind hin zu einer Regierung, die bereit ist, das grundlegende Prinzip unserer Verfassung zu erfüllen, so wie es in der Präambel formuliert ist: »den Weg für eine sozialistische Gesellschaft zu öffnen, unter Respektierung des Willens des portugiesischen Volkes mit dem Ziel des Aufbau eines Landes in größerer Freiheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit«.
    * Frank Bochow, Jg. 1937, war von 1977 bis 1981 Botschafter der DDR in Portugal
    Interview mit Vasco Goncalves

    aus der Jungen Welt vom 24. April 2004 zur Nelkenrevolution

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