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und Materialien:
  • 25. April 1974, 0.20 Uhr: Grândola, vila morena
    Artikel aus der Jungen Welt zur Nelkenrevolution
    Junge Welt vom 24. April 2004
    Gerd Schumann
    José Afonso und Franz Josef Degenhardt sangen von der portugiesischen Revolution: Zwei historische Vinylscheiben erzählen die Geschichte einer untergegangenen Epoche
    Vor mir liegen zwei Schallplatten, schwarzes Vinyl aus der Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, also jener leningestützten Vorstellung, nach der die drei »Hauptströme« des weltrevolutionären Prozesses – sozialistische Länder, Arbeiterbewegung des Kapitalismus, nationale Befreiungsbewegungen des Trikont – dem historisch überholten Imperialismus den Garaus bereiten würden.
    Grândola, vila morena
    Stadt der Sonne, Stadt der Brüder,
    Grândola, vila morena
    Grândola, du Stadt der Lieder
    Nun kreist die erste Scheibe in 33 Umdrehungen pro Minute auf dem Plattenteller: »Cantigas do Maio« (Gesänge aus dem Mai) von José »Zeca« Afonso. Das leise Knirschen und Knistern hat nicht, wie zu vermuten, mit Vinylabnutzung zu tun. Im Gegenteil. Mit ihm beginnt etwas Taufrisches, ein in Portugal lange verbotenes Lied, das Lied von der Stadt Grândola. Das leise Knirschen und Knistern wird zum schleppenden Rhythmus, träge und zäh wie lustlos Marschierende, ermatteter Tritt von Tagelöhnern, immer stärker und lauter, bis der Sänger mit trauriger Stimme »Grândola, vila Morena« darauf singt, und »Terra da fraternidade«, eine Terz höher, »O povo eçquem mais ordena. Dentro de ti ó cidade: Grândola, dunkle Stadt, Ort der Brüderlichkeit, das Volk hat wieder zu bestimmen in dir, du Stadt.« José Afonso stimmt es solo an, ruhig, ja gelassen, einfacher Melodiebogen, doch von einer Melancholie durchwirkt, so tief, unvorstellbar fast die Sehnsucht, die in ihr schwingt wie beim Fado (Schicksal), den Afonso schon als 17jähriger aufführte – zu Hause in Coimbra, wo er Geschichte und Philosophie studierte, und später in der portugiesischen Kolonie Moçambique, portugiesischer Schicksalsgesang, der Welt hoffnungsloses Leid beklagend.
    Grândola, du Stadt der Lieder
    Auf den Plätzen, in den Straßen
    Stehen Freunde, stehen Brüder
    Grândola gehört den Massen.
    Dann wiederholt eine andere Stimme die letzte Zeile, »Grândola gehört den Massen«, ein heller Fastsopran, dessen Satz von vielen Sängern unterstützt wird, herb, düster zunächst, dann entschlossen, zumindest steigert sich das Volumen, Männerchor, Saisonarbeiter auf dem Land des Latifundienbesitzers, Korkeichen schälend, Getreide erntend, Oliven pflückend, dabei singend in alter Tradition, Arbeitslied, der Vorgabe des Sängers folgend, überkommener Wechselgesang zwar, doch auch neu, im Stil des portugiesischen »Canto livre« (Freier Gesang), in dem die mehrstimmig vorgetragene Weiterentwicklung der Dramaturgie Bewußtseinsentwicklung anzeigt, ein mächtiger A-cappella-Gesang, doch immer weiter unterlegt von dem tristen Kolonnentritt. Der entfernt sich nach sechs Vierzeilern langsam, verliert sich in der Ferne, in der Unendlichkeit trockener, abgeernteter Flächen. Ende des drei-Minuten-Lieds, ein einfaches, kleines Stück von ungeheurer, großartiger Wirkung: Aufruf zur Veränderung der politischen Weltkarte.
    Grândola, vila morena
    Viele Hände, die sich fassen
    Solidarität und Freiheit
    Geht der Ruf durch deine Straßen.
    0.20 Uhr zeigt die Uhr im Studio der katholischen Radiostation »Renascenca« (Wiedergeburt), keine halbe Stunde nach Mitternacht des 25. April 1974 ertönt das verabredete Zeichen. Schon vorher hatte sich die Nadel in die Rille gegraben, war das historische Magnetband produziert worden, die Strophen jeweils unterbrochen vom rezitierten Text – das verabredete akustische Signal zum Aufstand. Zwei regimeoppositionelle Journalisten, Carlos Albino und Manuel Tomaz, haben alles bis ins Detail vorbereitet. Albinos Kontakte zur klandestinen Bewegung der Streitkräfte Portugals (MFA) aus der Zeit seines eigenen, verhaßten Militärdienstes machen ihn und Tomaz, ein Hörfunkkollege, der aus Moçambique ins Herz der Kolonialmacht gekommen ist, zu Schlüsselfiguren der Revolution. Die MFA-Truppen werden zunächst Lissabon nehmen, um dann in den folgenden Stunden und Tagen das faschistische Regime des Salazar-Nachfolgers Marcelo Caetano zum Teufel zu jagen, eine Terrorherrschaft stürzen, die die portugiesische Gesellschaft seit bald einem halben Jahrhundert lähmt, wie in Blei gegossen das Land und die Kolonien, bewacht von gefürchteten Geheimdienstfolterern der PIDE, Angst und Einschüchterung verbreitend, den gebeugten Gang und Vorsicht als Lebenseinstellung erzwingend. Grândola erhebt sich, das Lied wirkt.
    Geht der Ruf durch deine Straßen
    Gleich und gleich sind unsre Schritte
    Grândola, vila morena
    Gleich und gleich durch deine Mitte.
    José Afonso trug Grândola erstmals am 29. März 1973 vor. 5 000 Menschen sangen mit beim ersten portugiesischen Liederfestival. Seitdem ist es verboten, wie die neuen Volkslieder des Mikis Theodorakis in Griechenland. Wie die neuen Volkslieder des Katalanen Lluis Llach in Spanien. Sie wirken in den letzten faschistischen Diktaturen Europas als Kraftspender auf dem langen Marsch des Widerstands, bedeuten eine »kurze Rast in einem quellenkühlen Tal« (Franz Josef Degenhardt 1968: »Für Mikis Theodorakis«). Und die griechischen Obristen, die spanischen Herren Generäle mit ihrem Caudillo, die portugiesischen Mumien wanken. »Wie ihr großer weißer Vater, dieser Völkermörder Johnson, löschen sie das Licht nicht mehr bei Nacht« (Degenhardt). Grândola, also Portugal, los, mach den Anfang!
    Deine Kraft und euer Wille
    Sind so alt wie unsre Träume
    Grândola, vila morena
    Alt wie deine Schattenbäume.
    Genau 30 Jahre liegt »Grândola« nun zurück, fast ein Drittel Jahrhundert verklungen das Lied über die Stadt im Alentejo, gelegen an der Strecke von Lissabon in die Algarve – ein Name nur, und doch Metapher für das Land, für dessen Herrschaft in Angola, Moçambique, Guinea-Bissao, im Golf von Guinea, in Macau, in Ost-Timor. Die zerlumpten Massen der Unterdrückten dort, die glitzernden Oasen für Reiche am Atlantischen ebenso wie am Indischen Ozean, wo im »Polana«, dem Luxushotel von Lourenco Marques, schwarze Frauen auf die Zimmer bestellt werden. Lourenco Marques wird bald seinen Kolonialistennamen aus dem 16. Jahrhundert ablegen und 1975 zu Maputo werden.
    Vor mir liegt nun das Foto von irgendwann zwischen dem 25. April und dem 1. Mai 1974, José Afonso und die ganze hochkarätige Liedermacherschar, vertrieben vom Faschismus, kehren zurück aus dem Exil. Die Freude der Menschengruppe läßt sich nicht in Worte fassen, zeugt sie doch von jenem äußerst seltenen Gleichklang aus persönlichem und gesellschaftlichem Empfinden, von vollendeter Vergangenheit und anbrechender Zukunft, von Trauer und Hoffnung.
    Alt wie deine Schattenbäume
    Grândola, du Stadt der Brüder
    Grândola, und deine Lieder
    Sind nun nicht mehr nur noch Träume.
    Franz Josef Degenhardt übertrug die portugiesischen Worte von »Grândola« ins Deutsche schon bald nach der »Nelkenrevolution« und sang sie auch. Singer-Songwriter wie José Afonso, damals trefflich »Liedermacher« genannt, ein Begriff, dem heute der Makel des Verstaubten angedichtet wird. Nun kreist die zweite Vinylrarität auf meinem Plattenteller. »Mit aufrechtem Gang« nannte sie »Väterchen Franz«, zu Beginn der Sechziger Pate an der neuen deutschen Liedermacherkrippe, seine doppelte Langspielrille in Beatles-weißem- Album-Cover mit schwarzen Schreibmaschinenlettern drauf, eine historische Scheibe deswegen, weil sie exakt jenen historischen Wendepunkt einfängt, an dem die Epoche zu kippen scheint und sich doch noch einmal fängt, jene kurze Zeitspanne zwischen Chile und Portugal, zwischen dem 11. September 1973 und dem 25. April 1974, zwischen putschenden Faschistengenerälen und putschenden Antifa-Massen in Uniform – »Station Chile« wurde am 31. Mai 1974 beim Victor-Jara- Gedächtniskonzert in der Essener Gruga-Halle aufgenommen, da überstrahlte der 25. April schon die chilenische Nacht, und Degenhardt rotzt trotzig trotz der schweren Niederlage für den weltweiten Sozialismus in Chile noch einmal das tragische »Venceremos« in den Saal. »Wir werden siegen« wird nicht Wirklichkeit werden. Der Sänger und Dichter weiß es noch nicht. Er und alle historischen Optimisten werden 1980 noch mit Nicaragua und Simbabwe feiern können. Die nationalen Befreiungsbewegungen scheinen erneut die Epochedefinition zu bestätigen. Ein letztes Mal.
    Die vom Westen installierten »bandidos armados« genannten konterrevolutionären Truppen in Moçambique und Angola destabilisieren die befreiten Exkolonien. Sie werden die sozialistischen Blütenträume der Freiheitskräfte MPLA und Frelimo zerstören. Degenhardt weiß noch nichts von Afghanistan und den bevorstehenden Niederlagen. Vielleicht ahnt er die bitteren Deformationen des Realsozialismus, singt dazu nicht, kein öffentliches Wort niemals.
    Noch immer ist das Vergangene nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen. Degenhardt interpretiert Erich Weinerts Emigranten-Choral und erinnert an den Kampf dagegen im »Zündschnüre-Song«, dem Lied zu seinem gleichnamigen, trocken-humorigen, also phantastisch milieustimmigen Ruhrgebietsroman über den antifaschistischen Jugendwiderstand 1944 – warum wird die »Zündschnüre«-Fernsehverfilmung eigentlich nicht mehr gezeigt heute? Dieselbe Frage betrifft des Sängers Lieder, jene Wegbegleiter in den Kämpfen und auf den Festen der Vergangenheit und auch der Gegenwart, auf alle Fälle der Zukunft, gemieden von den Rundfunkanstalten und Fernsehsendern des deutschen Westens. Damals aus gutem Grund – hundert Pro – siehe die Beispiele, siehe Portugal, Spanien, Griechenland, siehe Afonso, Llach, Theodorakis. Die historisch-dialektische Epochebestimmung scheint sich Mitte der siebziger Jahre ihren Weg zu bahnen – trotz des Berufsverbots, jener Bruchstelle einer progressiven BRD- Entwicklung, von der Degenhardt in seiner »Belehrung nach Punkten« singt. Die BRD bleibt dem preußischen Beamtenrecht ebenso verpflichtet wie der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«, die sich mit den Jahren auch in Portugal, Griechenland und Spanien, den letzten drei Gewaltherrschaften auf europäischem Boden, etablieren wird: Nein, der nationalen Befreiung folgt die soziale nicht zwangsläufig. Die internationale Sozialdemokratie leistet im Zusammenspiel mit den Bourgeoisien ganze Arbeit, unterstützt auch vom Mangel an Sozialismus im Sozialismus.
    Franz Josef Degenhardt, der Geschichtschronist, berichtet derweil von der Menschlichkeit und wie es damals war mit dem neuen Leben in »Wolgograd«, Stadt der Befreiung Deutschlands vom Faschismus, die früher »Stalingrad« hieß. Und singt vom portugiesischen April. Beide werden nie zusammenkommen, sagt uns die Geschichte. Bis jetzt. »Grândola«, das das letzte Lied »Mit aufrechtem Gang«, klingt knisternd und knirschend aus. Nein, nicht von zerkratztem Vinyl. Es sind die wieder geknechteten Landarbeiter des Alentejo.
    * Historisches Vinyl 1 inklusive »Grândola«: »Cantigas do Maio« (1929–1987), Orfeu, STAT 009
    * Historisches Vinyl 2 inklusive »Grândola«: »Mit aufrechtem Gang« von Franz Josef Degenhardt, Polydor, 2459240

    Artikel aus der Jungen Welt zur Nelkenrevolution

    Junge Welt vom 24. April 2004

    Gerd Schumann

    José Afonso und Franz Josef Degenhardt sangen von der portugiesischen Revolution: Zwei historische Vinylscheiben erzählen die Geschichte einer untergegangenen Epoche

    Vor mir liegen zwei Schallplatten, schwarzes Vinyl aus der Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, also jener leningestützten Vorstellung, nach der die drei »Hauptströme« des weltrevolutionären Prozesses – sozialistische Länder, Arbeiterbewegung des Kapitalismus, nationale Befreiungsbewegungen des Trikont – dem historisch überholten Imperialismus den Garaus bereiten würden.

    Grândola, vila morena

    Stadt der Sonne, Stadt der Brüder,

    Grândola, vila morena

    Grândola, du Stadt der Lieder

    Nun kreist die erste Scheibe in 33 Umdrehungen pro Minute auf dem Plattenteller: »Cantigas do Maio« (Gesänge aus dem Mai) von José »Zeca« Afonso. Das leise Knirschen und Knistern hat nicht, wie zu vermuten, mit Vinylabnutzung zu tun. Im Gegenteil. Mit ihm beginnt etwas Taufrisches, ein in Portugal lange verbotenes Lied, das Lied von der Stadt Grândola. Das leise Knirschen und Knistern wird zum schleppenden Rhythmus, träge und zäh wie lustlos Marschierende, ermatteter Tritt von Tagelöhnern, immer stärker und lauter, bis der Sänger mit trauriger Stimme »Grândola, vila Morena« darauf singt, und »Terra da fraternidade«, eine Terz höher, »O povo eçquem mais ordena. Dentro de ti ó cidade: Grândola, dunkle Stadt, Ort der Brüderlichkeit, das Volk hat wieder zu bestimmen in dir, du Stadt.« José Afonso stimmt es solo an, ruhig, ja gelassen, einfacher Melodiebogen, doch von einer Melancholie durchwirkt, so tief, unvorstellbar fast die Sehnsucht, die in ihr schwingt wie beim Fado (Schicksal), den Afonso schon als 17jähriger aufführte – zu Hause in Coimbra, wo er Geschichte und Philosophie studierte, und später in der portugiesischen Kolonie Moçambique, portugiesischer Schicksalsgesang, der Welt hoffnungsloses Leid beklagend.

    Grândola, du Stadt der Lieder

    Auf den Plätzen, in den Straßen

    Stehen Freunde, stehen Brüder

    Grândola gehört den Massen.

    Dann wiederholt eine andere Stimme die letzte Zeile, »Grândola gehört den Massen«, ein heller Fastsopran, dessen Satz von vielen Sängern unterstützt wird, herb, düster zunächst, dann entschlossen, zumindest steigert sich das Volumen, Männerchor, Saisonarbeiter auf dem Land des Latifundienbesitzers, Korkeichen schälend, Getreide erntend, Oliven pflückend, dabei singend in alter Tradition, Arbeitslied, der Vorgabe des Sängers folgend, überkommener Wechselgesang zwar, doch auch neu, im Stil des portugiesischen »Canto livre« (Freier Gesang), in dem die mehrstimmig vorgetragene Weiterentwicklung der Dramaturgie Bewußtseinsentwicklung anzeigt, ein mächtiger A-cappella-Gesang, doch immer weiter unterlegt von dem tristen Kolonnentritt. Der entfernt sich nach sechs Vierzeilern langsam, verliert sich in der Ferne, in der Unendlichkeit trockener, abgeernteter Flächen. Ende des drei-Minuten-Lieds, ein einfaches, kleines Stück von ungeheurer, großartiger Wirkung: Aufruf zur Veränderung der politischen Weltkarte.

    Grândola, vila morena

    Viele Hände, die sich fassen

    Solidarität und Freiheit

    Geht der Ruf durch deine Straßen.

    0.20 Uhr zeigt die Uhr im Studio der katholischen Radiostation »Renascenca« (Wiedergeburt), keine halbe Stunde nach Mitternacht des 25. April 1974 ertönt das verabredete Zeichen. Schon vorher hatte sich die Nadel in die Rille gegraben, war das historische Magnetband produziert worden, die Strophen jeweils unterbrochen vom rezitierten Text – das verabredete akustische Signal zum Aufstand. Zwei regimeoppositionelle Journalisten, Carlos Albino und Manuel Tomaz, haben alles bis ins Detail vorbereitet. Albinos Kontakte zur klandestinen Bewegung der Streitkräfte Portugals (MFA) aus der Zeit seines eigenen, verhaßten Militärdienstes machen ihn und Tomaz, ein Hörfunkkollege, der aus Moçambique ins Herz der Kolonialmacht gekommen ist, zu Schlüsselfiguren der Revolution. Die MFA-Truppen werden zunächst Lissabon nehmen, um dann in den folgenden Stunden und Tagen das faschistische Regime des Salazar-Nachfolgers Marcelo Caetano zum Teufel zu jagen, eine Terrorherrschaft stürzen, die die portugiesische Gesellschaft seit bald einem halben Jahrhundert lähmt, wie in Blei gegossen das Land und die Kolonien, bewacht von gefürchteten Geheimdienstfolterern der PIDE, Angst und Einschüchterung verbreitend, den gebeugten Gang und Vorsicht als Lebenseinstellung erzwingend. Grândola erhebt sich, das Lied wirkt.

    Geht der Ruf durch deine Straßen

    Gleich und gleich sind unsre Schritte

    Grândola, vila morena

    Gleich und gleich durch deine Mitte.

    José Afonso trug Grândola erstmals am 29. März 1973 vor. 5 000 Menschen sangen mit beim ersten portugiesischen Liederfestival. Seitdem ist es verboten, wie die neuen Volkslieder des Mikis Theodorakis in Griechenland. Wie die neuen Volkslieder des Katalanen Lluis Llach in Spanien. Sie wirken in den letzten faschistischen Diktaturen Europas als Kraftspender auf dem langen Marsch des Widerstands, bedeuten eine »kurze Rast in einem quellenkühlen Tal« (Franz Josef Degenhardt 1968: »Für Mikis Theodorakis«). Und die griechischen Obristen, die spanischen Herren Generäle mit ihrem Caudillo, die portugiesischen Mumien wanken. »Wie ihr großer weißer Vater, dieser Völkermörder Johnson, löschen sie das Licht nicht mehr bei Nacht« (Degenhardt). Grândola, also Portugal, los, mach den Anfang!

    Deine Kraft und euer Wille

    Sind so alt wie unsre Träume

    Grândola, vila morena

    Alt wie deine Schattenbäume.

    Genau 30 Jahre liegt »Grândola« nun zurück, fast ein Drittel Jahrhundert verklungen das Lied über die Stadt im Alentejo, gelegen an der Strecke von Lissabon in die Algarve – ein Name nur, und doch Metapher für das Land, für dessen Herrschaft in Angola, Moçambique, Guinea-Bissao, im Golf von Guinea, in Macau, in Ost-Timor. Die zerlumpten Massen der Unterdrückten dort, die glitzernden Oasen für Reiche am Atlantischen ebenso wie am Indischen Ozean, wo im »Polana«, dem Luxushotel von Lourenco Marques, schwarze Frauen auf die Zimmer bestellt werden. Lourenco Marques wird bald seinen Kolonialistennamen aus dem 16. Jahrhundert ablegen und 1975 zu Maputo werden.

    Vor mir liegt nun das Foto von irgendwann zwischen dem 25. April und dem 1. Mai 1974, José Afonso und die ganze hochkarätige Liedermacherschar, vertrieben vom Faschismus, kehren zurück aus dem Exil. Die Freude der Menschengruppe läßt sich nicht in Worte fassen, zeugt sie doch von jenem äußerst seltenen Gleichklang aus persönlichem und gesellschaftlichem Empfinden, von vollendeter Vergangenheit und anbrechender Zukunft, von Trauer und Hoffnung.

    Alt wie deine Schattenbäume

    Grândola, du Stadt der Brüder

    Grândola, und deine Lieder

    Sind nun nicht mehr nur noch Träume.

    Franz Josef Degenhardt übertrug die portugiesischen Worte von »Grândola« ins Deutsche schon bald nach der »Nelkenrevolution« und sang sie auch. Singer-Songwriter wie José Afonso, damals trefflich »Liedermacher« genannt, ein Begriff, dem heute der Makel des Verstaubten angedichtet wird. Nun kreist die zweite Vinylrarität auf meinem Plattenteller. »Mit aufrechtem Gang« nannte sie »Väterchen Franz«, zu Beginn der Sechziger Pate an der neuen deutschen Liedermacherkrippe, seine doppelte Langspielrille in Beatles-weißem- Album-Cover mit schwarzen Schreibmaschinenlettern drauf, eine historische Scheibe deswegen, weil sie exakt jenen historischen Wendepunkt einfängt, an dem die Epoche zu kippen scheint und sich doch noch einmal fängt, jene kurze Zeitspanne zwischen Chile und Portugal, zwischen dem 11. September 1973 und dem 25. April 1974, zwischen putschenden Faschistengenerälen und putschenden Antifa-Massen in Uniform – »Station Chile« wurde am 31. Mai 1974 beim Victor-Jara- Gedächtniskonzert in der Essener Gruga-Halle aufgenommen, da überstrahlte der 25. April schon die chilenische Nacht, und Degenhardt rotzt trotzig trotz der schweren Niederlage für den weltweiten Sozialismus in Chile noch einmal das tragische »Venceremos« in den Saal. »Wir werden siegen« wird nicht Wirklichkeit werden. Der Sänger und Dichter weiß es noch nicht. Er und alle historischen Optimisten werden 1980 noch mit Nicaragua und Simbabwe feiern können. Die nationalen Befreiungsbewegungen scheinen erneut die Epochedefinition zu bestätigen. Ein letztes Mal.

    Die vom Westen installierten »bandidos armados« genannten konterrevolutionären Truppen in Moçambique und Angola destabilisieren die befreiten Exkolonien. Sie werden die sozialistischen Blütenträume der Freiheitskräfte MPLA und Frelimo zerstören. Degenhardt weiß noch nichts von Afghanistan und den bevorstehenden Niederlagen. Vielleicht ahnt er die bitteren Deformationen des Realsozialismus, singt dazu nicht, kein öffentliches Wort niemals.

    Noch immer ist das Vergangene nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen. Degenhardt interpretiert Erich Weinerts Emigranten-Choral und erinnert an den Kampf dagegen im »Zündschnüre-Song«, dem Lied zu seinem gleichnamigen, trocken-humorigen, also phantastisch milieustimmigen Ruhrgebietsroman über den antifaschistischen Jugendwiderstand 1944 – warum wird die »Zündschnüre«-Fernsehverfilmung eigentlich nicht mehr gezeigt heute? Dieselbe Frage betrifft des Sängers Lieder, jene Wegbegleiter in den Kämpfen und auf den Festen der Vergangenheit und auch der Gegenwart, auf alle Fälle der Zukunft, gemieden von den Rundfunkanstalten und Fernsehsendern des deutschen Westens. Damals aus gutem Grund – hundert Pro – siehe die Beispiele, siehe Portugal, Spanien, Griechenland, siehe Afonso, Llach, Theodorakis. Die historisch-dialektische Epochebestimmung scheint sich Mitte der siebziger Jahre ihren Weg zu bahnen – trotz des Berufsverbots, jener Bruchstelle einer progressiven BRD- Entwicklung, von der Degenhardt in seiner »Belehrung nach Punkten« singt. Die BRD bleibt dem preußischen Beamtenrecht ebenso verpflichtet wie der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«, die sich mit den Jahren auch in Portugal, Griechenland und Spanien, den letzten drei Gewaltherrschaften auf europäischem Boden, etablieren wird: Nein, der nationalen Befreiung folgt die soziale nicht zwangsläufig. Die internationale Sozialdemokratie leistet im Zusammenspiel mit den Bourgeoisien ganze Arbeit, unterstützt auch vom Mangel an Sozialismus im Sozialismus.

    Franz Josef Degenhardt, der Geschichtschronist, berichtet derweil von der Menschlichkeit und wie es damals war mit dem neuen Leben in »Wolgograd«, Stadt der Befreiung Deutschlands vom Faschismus, die früher »Stalingrad« hieß. Und singt vom portugiesischen April. Beide werden nie zusammenkommen, sagt uns die Geschichte. Bis jetzt. »Grândola«, das das letzte Lied »Mit aufrechtem Gang«, klingt knisternd und knirschend aus. Nein, nicht von zerkratztem Vinyl. Es sind die wieder geknechteten Landarbeiter des Alentejo.

    * Historisches Vinyl 1 inklusive »Grândola«: »Cantigas do Maio« (1929–1987), Orfeu, STAT 009

    * Historisches Vinyl 2 inklusive »Grândola«: »Mit aufrechtem Gang« von Franz Josef Degenhardt, Polydor, 2459240



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