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und Materialien:

  • NEUN BEMERKUNGEN ZUM WELTSOZIALFORUM
    NEUN BEMERKUNGEN ZUM WELTSOZIALFORUM
    Von Rainer Rilling
    Rainer Rilling zieht eine (eigentlich unmögliche) Zwischenbilanz des Forums, denn “Alles muss unter diesem Vorbehalt der krassen Unübersichtlichkeit stehen”
    Fotos und mehr zum Welstsozialforum in Porto Alegre auf der Seite der Rosa-Luxemburg-Stiftung www.rosalux.de
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    Bei gefühlten 40 Grad lässt sich schwer sagen, woran es einer Veranstaltung dieser Art fehlt. Oder warum und wie sie funktioniert. Auch wer sich die Füße Wund läuft, dem Papier nachjagt, sich in ungeahnte Sprachwirrnisse hineinbegibt und kein Nacht ohne ausführlichste Kommunikationsversuche verstreichen lässt – der und die hat dennoch keine Chance, eine einigermaßen zuverlässige Beurteilung zustande zu bringen, was denn da geschah und geschieht in Porto Alegre – alles muss unter diesem Vorbehalt der krassen Unübersichtlichkeit stehen. Sie wird durch die professionelle Nachrichtenverarbeitung der Journaille nur langsam konterkariert – auch sie hat keinen Überblick, sondern schlägt nur Schneisen meist nach den autoritativen und reputierten Quellen, die aus der Hierarchie des Forums und seinen well known global and local heroes lanciert werden. Wer will auch mit einem Programm fertig werden, das die Sonntagsausgabe der New York Times bei weitem hinter sich lässt – ohne Werbung übrigens.
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    Also: ich zweifle daran, dass das Forum an politisch-ideologischer Autonomie verloren hat. Es ist weiter zu groß, zu demokratisch  und aktiv plural, um von einem hegemonialen Projekt bestimmt zu werden – schon gar nicht von einem sozialdemokratischen. Es scheint, als ob diese Strömung zumindest schwach repräsentiert ist. Die PT, die politisch und visuell das letzte Forum sehr stark prägte, hat stark an Präsenz verloren, die kritische Auseinandersetzung mit ihr hat gewonnen. Auch die CUT – im Unterschied zur MST – war weitaus weniger präsent. Die Kämpfe in anderen lateinamerikanischen Staaten rückten in den Vordergrund. Die RLS organisierte substantiell  an einem riesigen Podium  zur Frage des Wassers mit, um das in vielen lateinamerikanischen Ländern heftig gekämpft wird. Chavez, der vor zwei Jahren gleichsam durch den Hintereingang ins Forum gebracht wurde, übernimmt nun die Heroenrolle in der zentralen sonntäglichen Abschlussveranstaltung in eben jenem Giganthino – Stadion, in dem zu Beginn Lula und vor zwei Jahren zum Abschluss Chomsky und Roy sprachen. Eine bemerkenswerte Veränderung.
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    Sicher – wo vielleicht 150 000 Menschen sind, ist die Chance, vor leeren Stühlen zu predigen, relativ gering. Irgendwie bleibt überall eine Mindestmenge hängen, die dann häufig auch eben interessiert ist. Und der Raum des Forums ist wirklich offen, eine riesige Kultur-und Kommunikationsmaschine, die fünf Tage nicht aufhört zu laufen, zu schreien, zu werben, zu argumentieren, zu predigen. Das ist auch eine große Hörmaschine. Eine Schreibmaschine. Eine Sammelmaschine. Aber die Lautstärke und die Technik sind ungleich verteilt. Prominente haben große Säle und Groupies und kommen selten freiwillig in kleine Säle und stellen sich an. Sie haben Lautsprecher und verjagen nicht selten ihre Umgebung. Sie haben meistens lebendige Übersetzungsvehikel zur Hand – bei anderen ist oft genug ausgeschlossen, wer nicht spanisch kann. Und sage keiner, sie könnten nicht reden, diese Bewegungsstars – sie sind meistens deshalb welche geworden, man muss nicht nur das Richtige sagen, man muss es auch richtig sagen können.
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    Wer an den Zelten vorbeiläuft, hört in vier von fünf Männerstimmen. Wer hineingeht und schaut sich die Podien an, sieht: das war kein Irrtum. Das war schon anders – vor allem in Mumbai. Übrigens war das bei der RLS ein bisschen anders, aber nicht sonderlich.
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    Der Mainstream ist: die Stimmen sind bei weitem zu häufig aufs peinsamste nach Nationalstaaten geordnet. Die Staatsangehörigkeit bestimmt massiv mit, wie die prominenten Podien verteilt werden. Der RLS ist es passiert, dass sich der deutsche Diskutant, der übrigens flott spanisch spricht, unversehens einer unabgesprochenen Front von fünf Brasilianern gegenübersah, die dann auch über eine brasilianische Kampagne sprachen. Das Thema war allerdings Kapitalverkehrskontrollen, was irgendwie doch was Internationales an sich hat, weshalb er den Weg hierher genommen hat.
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    Ohne Staat kein Forum – er hat den Löwenanteil des Geldes bereitgestellt und verarbeitet die Raumfrage. Ein Projekt wäre allerdings: mal auszurechnen, welchen Marktpreis die öffentlichen und ehrenamtlichen SERVICES auf und vor diesem Forum haben. Das ginge mit Sicherheit in die Dutzende und Aberdutzende von Millionen. So viel zum Thema Privatisierung. Kleingewerbetreibende gab’s freilich en masse – bestimmt mehr als 5000.
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    Ohne Übersetzung kein Forum. Die Bewertung der Übersetzungsleistungen ist bei weitem zu gering. Wer nicht in die Weltsprachen kommt, ist nicht angeschlossen – nicht nur an den hegemonialen Müll, sondern auch an zahllose hochproduktive Debatten, gerade der Linken. Die spanisch sprechende Linke hat eine intellektuelle Hochzeit – die deutsche ist daran kaum anschlussfähig. Aber deren Interesse an dem, was in Deutschland geschieht, ist durchaus vorhanden – zu sehen etwa an der Veranstaltung der RLS zu Rosa Luxemburg oder zur Enteignungsökonomie.
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    Auffällig war: die radikale Rechte war kaum ein Thema. Man könnte glauben, Faschismus, Nazismus, rechtspopulistische und völkische Bewegungen interessieren nicht (mehr) auf dem Forum. Hier entwickelt sich ein großes Problem. Und nachdem die letzten Foren stark geprägt waren vom Krieg, gehörten dieses Mal Veranstaltungen zu substantiellen Themen wie militärische Forschung, Kriegsfolgen in Vietnam oder dem Irak oder zu Rüstungskonversion deutlich zu Kategorie der betrüblich ausgezehrten Unternehmen. Übrigens ist das Forum auch kein Ort, über die Eliten, herrschenden Klassen, unser aller Bourgeoisie und deren strategische Projekte nachzudenken. Aber das ist auch auf der Linken insgesamt üblich.
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    Trotzdem: das Forum und seine Bewegungen sind eigentlich die größte internationale oder transnationale Produktivkraft der Linken in der Gegenwart.

    Von Rainer Rilling

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  • Tanz der Sprache
    Nicht über Portugal – aber über Brasilien
    Andreas Trunschke über seinen vierten Seminartag auf dem WSF: “Sprache verbindet. Mich schließt sie diesmal aus, da zwei interessante Seminare für mich verloren sind, weil sie wieder nur auf Portugiesisch stattfinden…
    Das ist ärgerlich, zumal es um sehr interessante Fragen geht. Wie organisiert man den Bürgerhaushalt in verschiedenen Orten der Welt praktisch? Und wie geht es mit dem Bürgerhaushalt in Porto Alegre selbst weiter, nachdem die Regierung der PT – der Partei der Arbeiter, die dieses Modell erfunden hatte – abgewählt wurde? Mich trifft dieses Sprachproblem besonders häufig, denn die Sprache der Partizipation ist Portugiesisch. Vielleicht ein Ausdruck dafür, dass der Norden in dieser Frage weit zurückgeblieben ist. Deutschland lässt sich höchstens und mit viel Augenzudrücken als Schwellenland der Partizipation bezeichnen. Und die entwickelte Partizipationsnation Brasilien verhält sich uns gegenüber, wie es gegenüber Zurückgebliebenen häufig geht: Wer mitreden will, soll es gefälligst in der Sprache der Überlegenen tun. Manchmal fragen sie noch höflich an, ob jemand nicht Portugiesisch kann – auf Portugiesisch. Also Portugiesisch lernen?
    Umso überraschter erlebe ich, wie ein junger Amerikaner eine der zwei auf dem Forum anwesenden Kambodschanerinnen dolmetscht. Die kleine Frau berichtet in leisen Worten, wie die Lebensgrundlage ihrer Gemeinschaft zerstört wird. Sie hatten ungenutztes Land besetzt, um das zum Leben Nötigste anzubauen. Jetzt soll dort ein internationaler Flughafen entstehen und plötzlich ist ihr Land wertvoll und unerreichbar für die Armen. Was interessiert noch, wovon sie leben? Die Folge sind erste Selbstmorde. Auf demselben „Weltforum der Würde“ spricht Joãn Pedro Stedile, der unauffällig charismatische Führer der brasilianischen Bewegung der Landlosen MST. In das überfüllte Zelt passen plötzlich noch mehr Menschen. Stedile spricht klar, unaufgeregt und offenbar voller Humor. Redner und Zuhörer verschmelzen in einer Weise, die auch mich bewegt, obwohl ich kaum ein Wort verstehe. Ich lasse die reine Melodie seiner Sprache auf mich wirken und applaudiere am Ende stehend wie alle anderen. Stedile hat mir das Gefühl vermittelt dazuzugehören, ohne sich selbst, wie es sonst so häufig vorkommt, zu erheben. Ich fühle unsere Lust, unsere Lebensfreude, unseren Humor und das gute Gefühl, für die richtige Sache gemeinsam mit anderen zu streiten.
    Ein ebensolches Vergnügen ist es, Hillary Wainright zuzuhören. Die lebhafte Engländerin nennt Vorteile der Partizipation für die Demokratie. Dadurch, dass die Menschen ständig einbezogen werden und nicht nur bei Wahlen oder Volksabstimmungen, bekommt ihre Stimme wieder Gewicht. Sie werden unabhängiger von den Verwaltungen. Durch die Partizipation wird das praktische Wissen der einfachen Menschen wieder für politische Entscheidungen nutzbar. Mag der Schuster auch am besten wissen, wie man einen Schuh repariert, der Schuhbesitzer weiß am besten, wo er drückt. Schließlich gibt die partizipative Demokratie linken Regierungen die Kraft, dem Druck der großen Konzerne und der vorgefundenen Verhältnisse zu widerstehen. Wie nötig das ist, kann man in Brasilien an dem Präsidenten Lula oder an der PDS in Berlin studieren.
    Eine Veranstaltung wie das Weltsozialforum lebt von den Dolmetschern. Diese leisten unglaubliches. Nicht nur, dass sie ohne Geld arbeiten, sie tun dies bei großer Hitze, die in ihren kleinen Kabinen noch unerträglicher sein muss. Der Unterschied zu den Temperaturen zu Hause nähert sich 50 Grad. Selbst die Wasserverkäufer sind leiser geworden, aber sie brauchen ihre Produkte auch nicht mehr anzupreisen, wir strömen ihnen nur so zu. Gleichzeitig gibt es Menschen, die tanzen, trommeln und singen. Es gibt sie an unzähligen Stellen auf der kilometerlangen Strecke des Treffens. Das Forum ist nicht nur Kongress, sondern ebenso Kulturfestival. Verlorene Seminare geben mir die Chance, die mal sanfte, mal beklemmende, immer eindringliche Sprache der Kultur auf mich wirken zu lassen.
    www.rosalux.de

    Nicht über Portugal – aber über Brasilien

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