Stoppt die Vorratsdatenspeicherung! Jetzt klicken &handeln! Willst du auch an der Aktion teilnehmen? Hier findest du alle relevanten Infos
und Materialien:
  • Ein Lied für Lissabon
    Grandola Vila Morena

    Am 25. April 1974 fand die Nelkenrevolution in Portugal statt. Wie alles begann, wurde in einem Artikel in der Berliner Zeitung schön dargestellt.

    Berliner Zeitung vom 21. April 2004
    Manuel Tomaz sorgte dafür, dass in einer Aprilnacht 1974 ein bestimmter Song im Radio gespielt wurde – so begann die Nelkenrevolution in Portugal
    Julia Knobloch
    LISSABON, im April. Manuel Tomaz schaut aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in Oeiras, westlich von Lissabon. Weißes Sonnenlicht spiegelt sich auf dem Tejo- Fluss, der hier eigentlich schon der Atlantik ist. Auf der anderen Seite schlagen Wellen schäumend an die Küste von Caparica. Ganz links ragt ein Pfosten der roten Hängebrücke in sein Blickfeld, der Brücke des 25. April. In gewisser Weise ist Manuel Tomaz dafür verantwortlich, dass die Brücke diesen Namen trägt. “Am 25. April 1974 hatte ich einen Traum”, sagt er. “Ich träumte von einem Portugal, in dem die Menschen in Würde leben. So viel Kreativität und Schönheit lagen brach. Es war ungerecht, so leben zu müssen.” Tomaz wollte etwas ändern.
    Vor dem 25. April 1974 ist Portugal ein totes Land. Es ist der so genannte Neue Staat des Diktators António Salazar, ein Staat der Armut, der Zensur und der Geheimpolizei. Ein Staat, der mit aller Gewalt versucht, ein überkommenes Kolonialreich zusammenzuhalten. Zu seinen Überseeprovinzen gehören Macau, Ost-Timor, die Kapverden sowie die Insel São Tomé und Principe, auf Äquatorhöhe im Atlantik. Besonders wichtig sind Angola, Guinea-Bissau und Mosambik. Auf diese afrikanischen Länder, an Bodenschätzen um so viel reicher als das Mutterland, wollen weder Diktator Salazar noch sein Nachfolger Marcello Caetano verzichten. Sie verschiffen die jungen Portugiesen als Soldaten nach Afrika, dort sollen sie die Unabhängigkeitsbewegungen in Angola, in Guinea-Bissau oder in Mosambik zerschlagen. Und sie sollen Erz- und Diamantenminen, Ölraffinerien, Baumwoll- und Kaffeeplantagen verteidigen. Die Wirtschaft im Heimatland ist unter der Last der Ausgaben für diese Kriege längst zusammengebrochen.
    Manuel Tomaz lebt in jener Zeit noch in Mosambik, in Lourenço Marques, das heute Hauptstadt ist und Maputo heißt. Er ist Anfang Zwanzig, hat einen Abschluss in Soziologie und betreut mit seinen Freunden Leite de Vasconcelos und Eugénio Corte Real eine Sendung im Radio Clube de Mozambique. Lissabon ist weit, aber in den Kolonien herrschen dieselben rigiden Gesetze wie in Portugal: Versammlungsverbot – die wenigen Ausnahmen sind Fußballspiele oder Stierkämpfe -, und kein Recht auf freie Meinungsäußerung. Tomaz’ Revolte gegen den Staat ist zunächst der Kampf gegen die Zensur. Er spielt Liedermacher wie Georges Brassens, Leo Ferré und Pete Seeger. Und selbstverständlich spielt er den Portugiesen Zeca Afonso, der Ungerechtigkeit und Unfreiheit anprangert und dessen Stücke größtenteils auf dem Index stehen.
    “Alle unsere Texte wurden zensiert. Über Portugal zu reden war unmöglich.” Noch heute wird Tomaz wütend, wenn er darüber redet. Aber da ist noch etwas anderes in dem Gesicht mit dem angegrauten Schnurrbart: Stolz. “Wir waren die einzige Redaktion, die dem Zensor Beine gemacht hat. Sonst hatte der nichts zu tun.”
    Tomaz ist heute Dokumentarfilmer und Dozent für Journalistik. In seinem Arbeitszimmer in Oeiras läuft immer ein kleiner Fernseher, sein Schreibtisch ist viel zu voll, genau wie die Regale an den Wänden. Bücher und Zeitschriften, alte Tonbänder. Tomaz hebt alles auf. Ganz oben auf einem der Regale steht ein Aktenordner mit seinen alten Texten. Tomaz holt ihn herunter. Auf gelblichen Matrizen finden sich Rezensionen, Interviews mit regimekritischen Autoren, Essays, Kommentare. Lange Passagen sind schraffiert, daneben steht in grüner Tinte das Wort “corte” – zensiert.
    Am 4. Oktober 1972 verlässt Manuel Tomaz zusammen mit Leite de Vasconcelos und Corte Real heimlich Mosambik. Über Swasiland nach Südafrika, von dort per Schiff nach Barcelona. Tomaz hat sich entschieden: Er will etwas bewegen. Und das geht nur im Zentrum der Macht, in Lissabon. Er wird dort auf Carlos Albino treffen, gemeinsam werden sie mit einem Stück des Liedermachers Zeca Afonso das Land verändern.
    Carlos Albino ist heute ein bekannter Journalist in Portugal. Bedächtig stopft er eine Pfeife und blickt über seinen Brillenrand. Die ganze Geschichte soll er noch einmal erzählen? Die ganze Geschichte, die damit begann, dass Manuel Tomaz Mosambik verließ. “Über den 25. April wollte ich nie wieder reden”, sagt Albino. “Immer wenn ich geredet habe, gab es Ärger, Enttäuschungen. Aber Manuel Tomaz hat mich überredet.” Also erzählt Albino, wie es war, dreißig Jahre später in einer Bar in Lissabon.
    Im April 1974 schreibt Carlos Albino für die linke Zeitung República. Und er ist freier Mitarbeiter der Sendung “Limite” auf Radio Renascença, mit der sich Manuel Tomaz und Leite de Vasconcelos in den Frequenzen des Neuen Staates eingenistet haben. Auch hier beschäftigen sie die Zensoren gut. Limite heißt Grenze, und der Name ist Programm: bis an die Grenze dessen gehen, was möglich ist.
    Schon als Jugendlicher hatte Carlos Albino begriffen, wie arm das Land ist. Große Teile der Bevölkerung leben in mittelalterlichen Verhältnissen, als Landarbeiter im Alentejo oder als Schweinehirten in Tras-os-Montes. In den Slums der Hauptstadt sieht Albino, wie Menschen ihre Kinder zu den Tieren legen, damit sie es warm haben. Wer es sich leisten kann, steht an für ein bisschen Mehl, ein paar Tropfen Öl. Sicher, es gibt eine gebildete, bürgerliche Schicht. Aber in manchen Regionen Portugals liegt die Analphabetenrate bei achtzig Prozent.
    Albino studiert zunächst Jura. Dann leistet er seinen Militärdienst ab. “Ich tauge nicht zum Deserteur”, sagt er. Und das wird für diese Geschichte entscheidend werden. Denn Albino wird bald wissen, was in einigen portugiesischen Kasernen geplant wird.
    Er pafft ein paar hektische Züge und hält inne. Die Hand mit der Pfeife in der Luft beugt er leicht nach vorne und sagt: “Die Offiziere, die mich ausgebildet haben, waren Bestien! Mal mussten wir in voller Kampfausrüstung viereinhalb Meter in die Tiefe springen, dann eine Lagune durchqueren, obwohl vier von uns nicht schwimmen konnten. Sie ertranken.” Albino lernt, den Staat zu hassen, und unter seinen Kameraden, Rekruten und Reservisten, gärt es. Gleichzeitig macht sich bei portugiesischen Offizieren, bei den Hauptmännern, in Afrika Unmut breit. Aus Unmut wächst die Entschlossenheit, sich nicht länger für eine sinnlose Sache zu opfern. Sondern den Krieg zu beenden und die Verantwortlichen zu stürzen. Diese Einsicht ist die Basis für eine konspirative Bewegung in den Streitkräften, für die “Movimento das Forcas Armadas”, die MFA. In der Kaserne gelangt Albino in eingeweihte Kreise, zu denen er nach dem Militärdienst Kontakt hält. Als er hört, dass die Strategen des MFA das Signal zur Revolution im Radio ausstrahlen wollen, kann er helfen.
    Am 24. April 1974 kommt Carlos Albino in die Redaktion von Limite. Er hat eine Platte unter dem Arm, Regenbogenfarben auf weißem Cover. Es sind die “Cantigas de Maio” von Zeca Afonso, jenes berühmten Liedermachers, den Manuel Tomaz schon in Mosambik gespielt hat. Albino sagt, dass er mit Tomaz sprechen will, die beiden gehen in eine Bar. “Carlos war seltsam angespannt”, erinnert sich Tomaz. “Und dann fragt er mich, wie lange ich nicht in einer Kirche war.” Sie spazieren eine Zeit lang durch Lissabon, auf der Hut vor der Geheimpolizei. “Schließlich betraten wir eine Kirche, knieten uns in die Bank und taten, als beteten wir.” Aber das, was Albino in der Kirche flüstert, ist nicht das Vaterunser. “Manuel”, sagte er, “heute müssen wir eine besondere Aufnahme machen. Sie wird das Signal für die Armee sein, in Lissabon einzumarschieren. Sie wird das Signal für eine Revolution sein. Ich muss wissen, ob ich auf dich zählen kann.” Er kann.
    Manuel Tomaz holt seinen Freund Leite de Vasconcelos, den Moderator von Limite, aus dem Urlaub, ohne ihm den wahren Grund zu verraten. Leite de Vasconcelos spricht die erste Strophe von Zeca Afonsos Lied “Grândola Vila Morena”. Dann nehmen sie das komplette Lied auf. Nun noch einmal die erste Strophe. Denn nur in der Reihenfolge Strophe, Lied, Strophe und mit Vasconcelos Stimme wird “Grândola Vila Morena” zum Signal. So ist es vereinbart. Noch zwei Gedichte von Carlos Albino, ein weiteres Lied, und das Band ist fertig. Dem Zensor verkaufen sie es als einen Spezialbeitrag über portugiesische Lyrik, der leider spät, um exakt 0 Uhr 20, über den Äther gehen müsse. Sie hätten Freunde, die wollten die Sendung aufnehmen und das ginge nur zu dieser Uhrzeit. Der Zensor gibt Texte und Lieder frei.
    Nur Manuel Tomaz und Carlos Albino wissen, was in dieser Nacht in dem Studio auf dem Spiel steht. Und dann liest um 0 Uhr 20 der Ansager Werbung vor. “Wir haben es verpatzt, dachte ich.” Manuel Tomaz sieht den Zeiger unaufhaltsam vorrücken: 0 Uhr 20 und 10 Sekunden. 15 Sekunden. 17 Sekunden. Manuel Tomaz verliert die Geduld. “Um 0 Uhr 20 und 19 Sekunden startete ich das Band und schnitt dem Ansager das Wort ab.” Von der anderen Seite rennt der Zensor herbei. “Stoppt die Sendung!” Zu spät. Das Band läuft weiter. In den Kasernen ist das Signal angekommen. Der Putsch beginnt.
    Tomaz und Albino verlassen das Studio. “Als ich durch das menschenleere Lissabon ging, erfasste mich bodenlose Angst”, sagt Albino. “Wer wusste schon, was geschieht.”
    In den frühen Morgenstunden rollen Panzer durch Lissabon. Lissabons Bürger feiern mit den Soldaten und stecken Nelken in die Gewehrläufe. Die Blumen werden das Symbol des 25. April. Noch am selben Abend tritt Marcello Caetano zurück. Die Diktatur ist vorbei.
    Dreißig Jahre später klopft Carlos Albino in der Hotellobby seine Pfeife aus. “Alle sprechen heute über die Bewegung der Streitkräfte, als sei die gesamte Armee der Heilsbringer schlechthin gewesen. Ich habe von meinen Herren Generälen erzählt. Nach dem 25. April waren die plötzlich große Demokraten.” Albino winkt ab. “Die treibende Kraft der Revolution waren die normalen Soldaten. Zivilisten. Das Volk.”
    Manuel Tomaz hat in seinem Arbeitszimmer in Oeiras auch eine Art Bilanz gezogen. “Das Signal war nur der Anfang des langen, schwierigen Prozesses, dem portugiesischen Volk Würde zu geben. Noch immer gibt es Armut. Und unsere Demokratie ist jung, da bleibt viel zu tun. Die Diktatur hat politisches Bewusstsein unterdrückt.” Dann klingelt sein Handy. Tomaz ist in der Gegenwart angekommen. Er wird dafür sorgen, dass Portugal in diesem Jahr eine neue Geschichte bekommt. Manuel Tomaz arbeitet jetzt für die Fußball-Europameisterschaft. Er koordiniert die Übertragungen der Spiele in alle Welt.

    Berliner Zeitung vom 21. April 2004

    Manuel Tomaz sorgte dafür, dass in einer Aprilnacht 1974 ein bestimmter Song im Radio gespielt wurde – so begann die Nelkenrevolution in Portugal

    Julia Knobloch

    LISSABON, im April. Manuel Tomaz schaut aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in Oeiras, westlich von Lissabon. Weißes Sonnenlicht spiegelt sich auf dem Tejo- Fluss, der hier eigentlich schon der Atlantik ist. Auf der anderen Seite schlagen Wellen schäumend an die Küste von Caparica. Ganz links ragt ein Pfosten der roten Hängebrücke in sein Blickfeld, der Brücke des 25. April. In gewisser Weise ist Manuel Tomaz dafür verantwortlich, dass die Brücke diesen Namen trägt. “Am 25. April 1974 hatte ich einen Traum”, sagt er. “Ich träumte von einem Portugal, in dem die Menschen in Würde leben. So viel Kreativität und Schönheit lagen brach. Es war ungerecht, so leben zu müssen.” Tomaz wollte etwas ändern.

    Vor dem 25. April 1974 ist Portugal ein totes Land. Es ist der so genannte Neue Staat des Diktators António Salazar, ein Staat der Armut, der Zensur und der Geheimpolizei. Ein Staat, der mit aller Gewalt versucht, ein überkommenes Kolonialreich zusammenzuhalten. Zu seinen Überseeprovinzen gehören Macau, Ost-Timor, die Kapverden sowie die Insel São Tomé und Principe, auf Äquatorhöhe im Atlantik. Besonders wichtig sind Angola, Guinea-Bissau und Mosambik. Auf diese afrikanischen Länder, an Bodenschätzen um so viel reicher als das Mutterland, wollen weder Diktator Salazar noch sein Nachfolger Marcello Caetano verzichten. Sie verschiffen die jungen Portugiesen als Soldaten nach Afrika, dort sollen sie die Unabhängigkeitsbewegungen in Angola, in Guinea-Bissau oder in Mosambik zerschlagen. Und sie sollen Erz- und Diamantenminen, Ölraffinerien, Baumwoll- und Kaffeeplantagen verteidigen. Die Wirtschaft im Heimatland ist unter der Last der Ausgaben für diese Kriege längst zusammengebrochen.

    Manuel Tomaz lebt in jener Zeit noch in Mosambik, in Lourenço Marques, das heute Hauptstadt ist und Maputo heißt. Er ist Anfang Zwanzig, hat einen Abschluss in Soziologie und betreut mit seinen Freunden Leite de Vasconcelos und Eugénio Corte Real eine Sendung im Radio Clube de Mozambique. Lissabon ist weit, aber in den Kolonien herrschen dieselben rigiden Gesetze wie in Portugal: Versammlungsverbot – die wenigen Ausnahmen sind Fußballspiele oder Stierkämpfe -, und kein Recht auf freie Meinungsäußerung. Tomaz’ Revolte gegen den Staat ist zunächst der Kampf gegen die Zensur. Er spielt Liedermacher wie Georges Brassens, Leo Ferré und Pete Seeger. Und selbstverständlich spielt er den Portugiesen Zeca Afonso, der Ungerechtigkeit und Unfreiheit anprangert und dessen Stücke größtenteils auf dem Index stehen.

    “Alle unsere Texte wurden zensiert. Über Portugal zu reden war unmöglich.” Noch heute wird Tomaz wütend, wenn er darüber redet. Aber da ist noch etwas anderes in dem Gesicht mit dem angegrauten Schnurrbart: Stolz. “Wir waren die einzige Redaktion, die dem Zensor Beine gemacht hat. Sonst hatte der nichts zu tun.”

    Tomaz ist heute Dokumentarfilmer und Dozent für Journalistik. In seinem Arbeitszimmer in Oeiras läuft immer ein kleiner Fernseher, sein Schreibtisch ist viel zu voll, genau wie die Regale an den Wänden. Bücher und Zeitschriften, alte Tonbänder. Tomaz hebt alles auf. Ganz oben auf einem der Regale steht ein Aktenordner mit seinen alten Texten. Tomaz holt ihn herunter. Auf gelblichen Matrizen finden sich Rezensionen, Interviews mit regimekritischen Autoren, Essays, Kommentare. Lange Passagen sind schraffiert, daneben steht in grüner Tinte das Wort “corte” – zensiert.

    Am 4. Oktober 1972 verlässt Manuel Tomaz zusammen mit Leite de Vasconcelos und Corte Real heimlich Mosambik. Über Swasiland nach Südafrika, von dort per Schiff nach Barcelona. Tomaz hat sich entschieden: Er will etwas bewegen. Und das geht nur im Zentrum der Macht, in Lissabon. Er wird dort auf Carlos Albino treffen, gemeinsam werden sie mit einem Stück des Liedermachers Zeca Afonso das Land verändern.

    Carlos Albino ist heute ein bekannter Journalist in Portugal. Bedächtig stopft er eine Pfeife und blickt über seinen Brillenrand. Die ganze Geschichte soll er noch einmal erzählen? Die ganze Geschichte, die damit begann, dass Manuel Tomaz Mosambik verließ. “Über den 25. April wollte ich nie wieder reden”, sagt Albino. “Immer wenn ich geredet habe, gab es Ärger, Enttäuschungen. Aber Manuel Tomaz hat mich überredet.” Also erzählt Albino, wie es war, dreißig Jahre später in einer Bar in Lissabon.

    Im April 1974 schreibt Carlos Albino für die linke Zeitung República. Und er ist freier Mitarbeiter der Sendung “Limite” auf Radio Renascença, mit der sich Manuel Tomaz und Leite de Vasconcelos in den Frequenzen des Neuen Staates eingenistet haben. Auch hier beschäftigen sie die Zensoren gut. Limite heißt Grenze, und der Name ist Programm: bis an die Grenze dessen gehen, was möglich ist.

    Schon als Jugendlicher hatte Carlos Albino begriffen, wie arm das Land ist. Große Teile der Bevölkerung leben in mittelalterlichen Verhältnissen, als Landarbeiter im Alentejo oder als Schweinehirten in Tras-os-Montes. In den Slums der Hauptstadt sieht Albino, wie Menschen ihre Kinder zu den Tieren legen, damit sie es warm haben. Wer es sich leisten kann, steht an für ein bisschen Mehl, ein paar Tropfen Öl. Sicher, es gibt eine gebildete, bürgerliche Schicht. Aber in manchen Regionen Portugals liegt die Analphabetenrate bei achtzig Prozent.

    Albino studiert zunächst Jura. Dann leistet er seinen Militärdienst ab. “Ich tauge nicht zum Deserteur”, sagt er. Und das wird für diese Geschichte entscheidend werden. Denn Albino wird bald wissen, was in einigen portugiesischen Kasernen geplant wird.

    Er pafft ein paar hektische Züge und hält inne. Die Hand mit der Pfeife in der Luft beugt er leicht nach vorne und sagt: “Die Offiziere, die mich ausgebildet haben, waren Bestien! Mal mussten wir in voller Kampfausrüstung viereinhalb Meter in die Tiefe springen, dann eine Lagune durchqueren, obwohl vier von uns nicht schwimmen konnten. Sie ertranken.” Albino lernt, den Staat zu hassen, und unter seinen Kameraden, Rekruten und Reservisten, gärt es. Gleichzeitig macht sich bei portugiesischen Offizieren, bei den Hauptmännern, in Afrika Unmut breit. Aus Unmut wächst die Entschlossenheit, sich nicht länger für eine sinnlose Sache zu opfern. Sondern den Krieg zu beenden und die Verantwortlichen zu stürzen. Diese Einsicht ist die Basis für eine konspirative Bewegung in den Streitkräften, für die “Movimento das Forcas Armadas”, die MFA. In der Kaserne gelangt Albino in eingeweihte Kreise, zu denen er nach dem Militärdienst Kontakt hält. Als er hört, dass die Strategen des MFA das Signal zur Revolution im Radio ausstrahlen wollen, kann er helfen.

    Am 24. April 1974 kommt Carlos Albino in die Redaktion von Limite. Er hat eine Platte unter dem Arm, Regenbogenfarben auf weißem Cover. Es sind die “Cantigas de Maio” von Zeca Afonso, jenes berühmten Liedermachers, den Manuel Tomaz schon in Mosambik gespielt hat. Albino sagt, dass er mit Tomaz sprechen will, die beiden gehen in eine Bar. “Carlos war seltsam angespannt”, erinnert sich Tomaz. “Und dann fragt er mich, wie lange ich nicht in einer Kirche war.” Sie spazieren eine Zeit lang durch Lissabon, auf der Hut vor der Geheimpolizei. “Schließlich betraten wir eine Kirche, knieten uns in die Bank und taten, als beteten wir.” Aber das, was Albino in der Kirche flüstert, ist nicht das Vaterunser. “Manuel”, sagte er, “heute müssen wir eine besondere Aufnahme machen. Sie wird das Signal für die Armee sein, in Lissabon einzumarschieren. Sie wird das Signal für eine Revolution sein. Ich muss wissen, ob ich auf dich zählen kann.” Er kann.

    Manuel Tomaz holt seinen Freund Leite de Vasconcelos, den Moderator von Limite, aus dem Urlaub, ohne ihm den wahren Grund zu verraten. Leite de Vasconcelos spricht die erste Strophe von Zeca Afonsos Lied “Grândola Vila Morena”. Dann nehmen sie das komplette Lied auf. Nun noch einmal die erste Strophe. Denn nur in der Reihenfolge Strophe, Lied, Strophe und mit Vasconcelos Stimme wird “Grândola Vila Morena” zum Signal. So ist es vereinbart. Noch zwei Gedichte von Carlos Albino, ein weiteres Lied, und das Band ist fertig. Dem Zensor verkaufen sie es als einen Spezialbeitrag über portugiesische Lyrik, der leider spät, um exakt 0 Uhr 20, über den Äther gehen müsse. Sie hätten Freunde, die wollten die Sendung aufnehmen und das ginge nur zu dieser Uhrzeit. Der Zensor gibt Texte und Lieder frei.

    Nur Manuel Tomaz und Carlos Albino wissen, was in dieser Nacht in dem Studio auf dem Spiel steht. Und dann liest um 0 Uhr 20 der Ansager Werbung vor. “Wir haben es verpatzt, dachte ich.” Manuel Tomaz sieht den Zeiger unaufhaltsam vorrücken: 0 Uhr 20 und 10 Sekunden. 15 Sekunden. 17 Sekunden. Manuel Tomaz verliert die Geduld. “Um 0 Uhr 20 und 19 Sekunden startete ich das Band und schnitt dem Ansager das Wort ab.” Von der anderen Seite rennt der Zensor herbei. “Stoppt die Sendung!” Zu spät. Das Band läuft weiter. In den Kasernen ist das Signal angekommen. Der Putsch beginnt.

    Tomaz und Albino verlassen das Studio. “Als ich durch das menschenleere Lissabon ging, erfasste mich bodenlose Angst”, sagt Albino. “Wer wusste schon, was geschieht.”

    In den frühen Morgenstunden rollen Panzer durch Lissabon. Lissabons Bürger feiern mit den Soldaten und stecken Nelken in die Gewehrläufe. Die Blumen werden das Symbol des 25. April. Noch am selben Abend tritt Marcello Caetano zurück. Die Diktatur ist vorbei.

    Dreißig Jahre später klopft Carlos Albino in der Hotellobby seine Pfeife aus. “Alle sprechen heute über die Bewegung der Streitkräfte, als sei die gesamte Armee der Heilsbringer schlechthin gewesen. Ich habe von meinen Herren Generälen erzählt. Nach dem 25. April waren die plötzlich große Demokraten.” Albino winkt ab. “Die treibende Kraft der Revolution waren die normalen Soldaten. Zivilisten. Das Volk.”

    Manuel Tomaz hat in seinem Arbeitszimmer in Oeiras auch eine Art Bilanz gezogen. “Das Signal war nur der Anfang des langen, schwierigen Prozesses, dem portugiesischen Volk Würde zu geben. Noch immer gibt es Armut. Und unsere Demokratie ist jung, da bleibt viel zu tun. Die Diktatur hat politisches Bewusstsein unterdrückt.” Dann klingelt sein Handy. Tomaz ist in der Gegenwart angekommen. Er wird dafür sorgen, dass Portugal in diesem Jahr eine neue Geschichte bekommt. Manuel Tomaz arbeitet jetzt für die Fußball-Europameisterschaft. Er koordiniert die Übertragungen der Spiele in alle Welt.



Trackback-URL

Speak / Kommentieren...
Kommentare werden moderiert.

Return to Top